Donnerstag, 28. März 2024
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Tschetschenien lässt mehr als 100 schwule Männer „verschwinden“

Regierung leugnet nicht nur die Aktion - sondern auch, dass es in Tschetschenien überhaupt Schwule gibt

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Eine Welle der gewaltsamen Repression müssen schwule Männer derzeit in der autonomen russischen Republik Tschetschenien fürchten: Wie die oppositionelle Online-Zeitung „Nowaya Gaseta“ berichtet, wurden mehr als hundert Männer „in Zusammenhang mit ihrer nichttraditionellen sexuellen Orientierung – oder deren Verdacht“ festgenommen, mindestens drei von ihnen überlebten dabei nicht. Mittlerweile hat die „New York Times“ entsprechende Berichte durch eigene Recherchen bestätigt.

„In Tschetschenien wurde die Order zu einer ‚prophylaktischen Säuberung‘ ausgegeben, die so weit geht, dass Menschen getötet werden“, so die Zeitung. Die Festnahmen erfolgten nicht nur in der Hauptstadt Grosny, sondern in allen Teilen der Republik im Süden Russlands. Drei Tote seien der Zeitung namentlich bekannt, es gebe einigen Quellen zufolge aber erheblich mehr Opfer. Wenn die Berichte zutreffen, handelt es sich um die massivsten staatlichen Übergriffe auf Homosexuelle in Europa seit der Verfolgung von Homosexuellen im NS-Regime, hat die HOSI Wien recherchiert.

16-Jähriger wurde zusammengeschlagen und vor die Tür geworfen

„Sie haben nicht nur junge Leute getötet, sondern auch erwachsene Männer bis zu 50 Jahren. Unter ihnen sind auch berühmte Persönlichkeiten Tschetscheniens. […] Der Jüngste ist 16 Jahre alt. Er kommt aus unserem Dorf. In diesen Tagen haben sie ihn völlig zusammengeschlagen hergebracht, er war nur ein Sack voller Knochen. Sie haben ihn vor die Tür geworfen und gesagt, man möge ihn töten. Er soll noch immer nicht ganz bei sich sein“, zitiert die „Nowaya Gaseta“ einen anonymen Post in der russischen Facebook-Variante VKontakte.

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Den Zeitungen zufolge haben die Verschleppten kaum eine Chance zu überleben. „Wir wissen von mehreren Fällen, in denen Verhaftete sehr wahrscheinlich getötet und oft zuvor brutal gefoltert wurden“, erklärte die Menschenrechtsaktivistin Ekaterina Sokiryanskaya dem russischen Radiosender „Echo Moskau“.

„Diese Menschen verschwinden, sie werden getötet“

Das bestätigte auch der russische LGBT-Aktivist Igor Koschetkow dem zu „Radio Free Europe“ gehörenden „Echo Kaukasus“. „Über die letzten zwei Wochen haben wir Informationen von diversen unabhängigen Quellen erhalten, dass es einen echten Feldzug in Tschetschenien gibt, Menschen, die der Homosexualität verdächtigt werden, zu fassen und zu entführen. Und diese Menschen verschwinden, sie werden getötet“, zitiert das deutsche Portal queer.de aus dem Interview.

Mit jedem Tag kämen mehr Beweise, dass die Informationen stimmen würden, so der in St. Petersburg beheimatete Aktivist. Man habe auf einer Hotline entsprechende Nachrichten von Betroffenen und Angehörigen erhalten. „Ich kann bestätigen, dass die Kampagne tatsächlich durchgeführt wird. Es handelt sich nicht um isolierte Taten, sondern ein System. Die Menschen sind in Gefahr“, warnt Koschetkow.

LGBT-Verband organisiert bereits eine Evakuierung aus Tschetschenien

Unter den Homosexuellen in der islamisch geprägten Kaukasus-Republik herrscht Panik. Denn unter den Festgenommenen sollen auch religiöse Würdenträger und zwei bekannte Fernsehmoderatoren sein. Einige Festgenommene, die „aus Mangel an Beweisen“ freigelassen wurden, sollen außer Landes geflüchtet sein. Ein LGBT-Verband versucht gerade, eine Notevakuierung zu organisieren. Andere nutzen aus Sozialen Netzwerken alle Beiträge, die Hinweise auf ihre sexuelle Orientierung geben könnten.

Ihre Informationen will die „Nowaya Gaseta“ letzte Woche erhalten haben, so die Journalistin Elena Milashina. Mittlerweile habe sie diese durch Quellen im tschetschenischen Außenministerium, der Regierung, den örtlichen Geheimdiensten, der Staatsanwaltschaft und LGBT-Aktivisten überprüft. „Ich habe viele, viele Hinweise bekommen“, so Ekaterina Sokirjanskaja von der NGO „International Crisis Group“. Die Bestätigung habe sie von zu vielen Seiten erhalten, „als dass es nicht wahr sein könnte“. Von offizieller Seite werden die Festnahmen dementiert.

Die Regierung dementiert, dass es in Tschetschenien überhaupt Schwule gibt

Doch nicht nur, dass schwule Männer festgenommen wurden, bestreitet die tschetschenische Regierung. Es gebe gar keine Homosexuellen im Süden Russlands, so die offizielle Version. „Man kann niemanden verhaften oder unterdrücken, den es in der Republik gar nicht gibt“, erklärte Alwi Karimow, der Sprecher des tschetschenischen Republikführers Ramsan Kadyrow, der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti. Er bezeichnete den Bericht als „Lüge“ und „Desinformation“.

„Würden solche Leute in Tschetschenien existieren, müssten die Sicherheitsbehörden sich gar nicht um sie kümmern, da ihre Verwandten sie selbst an einen Ort schicken würden, von dem sie nicht zurückkehren“, ergänzte der Kadyrow-Sprecher. Denn in Tschetschenien ist die Gesellschaft noch immer durch mächtige Familienclans organisiert, vereinzelt kommt es zu Ehrenmorden.

Deshalb können die Sicherheitsbehörden gegenüber schwulen Männern so skrupellos agieren: Die Familien würden die Verschleppung ihrer Angehörigen aus Angst vor der Obrigkeit nicht anzeigen oder öffentlich machen, vermutet „Nowaya Gaseta“. Offen lebt in Tschetschenien ohnehin niemand seine Homosexualität aus – das würde der Zeitung zufolge einem Todesurteil gleichkommen. Homosexualität steht in der islamisch geprägten Teilrepublik zwar nicht unter Strafe, ist aber gesellschaftlich geächtet.

Russische Presse gibt CSD-Moskau-Organisator Nikolai Aleksejew eine Mitschuld an den Verschleppungen

Auslöser für die Aktion gegen Schwule soll der Zeitung zufolge ein Antrag des Moscow-Pride-Organisators Nikolai Aleksejew gewesen sein: Dieser soll mit seinen Mitstreitern in mehreren Städten in Russlands, darunter auch im muslimisch geprägten Nordkaukasus, um Genehmigungen für die Abhaltung von Paraden angesucht hatten, so die Online-Zeitung. Diese Anträge wurden erwartungsgemäß abgelehnt, was die Initiatoren auch geplant haben: Sie sammeln gerade Beweise für eine Klage gegen Russland vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR).

Beobachter bezweifeln aber diese Version an und glauben, dass es sich bei dieser Begründung um besonders perfide Propaganda gegen Aleksejew handle. Der Aktivist hat den russischen Staat mit seinen Aktionen bereits mehrmals empfindlich getroffen, für Geheimdienste wäre es eine willkommene Gelegenheit, den Aktivisten zur Zielscheibe zu machen.

Der St. Petersburger LGBT-Aktivist Igor Koschetkow bezeichnete die Aktion von Aleksejew im Radiosender „Echo Kaukasus“ als „undurchdacht“, da die Reaktionen der Führung und Bewohner der Kaukasus-Republiken sehr schwer einzuschätzen seien. Trotzdem betont er, „dass die Verantwortung und die Schuld für die Entführungen und Morde, die derzeit in Tschetschenien passieren, nicht bei Aktivisten liegt, sondern bei den Personen, die diese Taten ausführen“.

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