Freitag, 29. März 2024
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Trotz Vereinbarung im Regierungsprogramm: Keine rechtliche Anerkennung für „inter/divers“?

Der pathologisierende Erlass zur dritten Option unter Nehammer

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Seit 2018 gibt es in Österreich die Möglichkeit zum dritten Geschlechtseintrag in persönlichen Dokumenten, wenn die Geschlechtsidentität eines Menschen weder weiblich noch männlich ist.

Ein wichtiger Schritt für jene, die durch ihre Individualität in ständige Erklärungsnot geraten und unangenehme Alltagssituationen sowie Behördenwege absolvieren müssen. Für jene, die täglich falsche Anreden und Zwangsoutings oder sogar Angriffe über sich ergehen lassen müssen. Weil sie nicht nur sozial, sondern auch rechtlich unsichtbar gemacht wurden und werden. Obwohl wir doch zumindest aus dem Tier- und Pflanzenreich Geschlechtervielfalt kennen, herrscht hier ein Tabu. Es gibt Menschen, die weder Frauen noch Männer sind und auch so anerkannt leben wollen. Dazu zählen sich verschiedene Personen, aber eines ist ihnen gleich: Es geht um ihre Würde.

Wo sind die Rechte von nicht-binären, trans- und intergeschlechtlichen Menschen?

Vor vier Jahren ging Alex Jürgen* zum Standesamt, um für sich einen richtigen Geschlechtseintrag zu beantragen – der Beginn des dazu ersten Rechtswegs einer intergeschlechtlichen Person in Österreich. Einige Ablehnungen, Beschwerden, Revisionen und gerichtliche Erkenntnisse später, wurde Alex Jürgen* im Februar 2020 vom zuständigen Landesverwaltungsgericht der Eintrag „inter“ endlich bestätigt.

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Die Begründung folgt dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshof (VfGH) vom Juni 2018, der klargestellt hat, dass das Personenstandsgesetz konform mit einem weiteren Geschlechtseintrag ist. Es geht um das Recht auf individuelle Geschlechtsidentität und dass Menschen nur „jene Geschlechtszuschreibungen durch staatliche Regelung akzeptieren müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen“, wie es in der Entscheidung heißt. Das war ein großartiger Erfolg für rechtliche Anerkennung von höchster Ebene.

Gerichtliche Entscheidungen werden missachtet, Betroffene im Kreis geschickt

Im Dezember 2018 wurde unter dem damaligen Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ der Erlass für die Standesämter zur Umsetzung der dritten Option herausgegeben. Mit seiner restriktiven Regelung wurde klar, dass dieser an den Betroffenen vorbeigehen soll und wenige ihr Recht in Anspruch nehmen können. Er verlangt die Erbringung eines medizinischen Gutachtens durch ein medizinisches Expert*innen-Board, das eine Variante der Geschlechtsentwicklung bestätigen soll. Seitdem wurden zahlreiche Personen zwischen den Standesämtern und den Ministerien für Inneres sowie Gesundheit hin- und hergeschickt, weil unklar ist, wer das dazu angeführte Board überhaupt ist.

Zahlreiche Diagnosen des Internationalen Krankheitsindex beschreiben diese „Varianten“ und pathologisieren intergeschlechtliche Menschen. Körperliche Vielfalt wird zur Abweichung erklärt, die für die Gesellschaft auf den „richtigen“ Weg gebracht werden muss. Dadurch erfahren viele Kinder und Jugendliche früh schon, dass sie angeblich nicht in Ordnung sind, wie sie sind und werden an ihren inneren oder/und äußeren Genitalien ihre Kindheit lang untersucht, oft mehrmals operiert und hormonell in die Pubertät gebracht, die den Erwachsenen als richtig erscheint – ohne gesundheitlich-dringliche Notwendigkeit. Dazu können sie nicht zustimmen und viele werden dadurch traumatisiert.

Betroffene können diese medizinischen Erfahrungen und Eingriffe in ihre Körper und Privatsphäre nicht rückgängig machen

Wenn sie später erkennen, dass die ihnen so zugewiesene Rolle und Identität nicht ihrer Realität entspricht und ihren Personenstand berichtigen wollen, müssen sie laut Erlass wieder die Medizin begutachtend entscheiden lassen. Ohne Untersuchung bzw. Diagnose gibt es kein Recht auf den (darin festgelegten) Eintrag „divers“. Zynischer könnte der Erlass nicht sein. Man fragt sich, ob entsprechende VfGH- Erkenntnisse überhaupt gelesen wurden, welche verlautbaren, dass Intergeschlechtlichkeit keine Krankheit und der Personenstand nicht an körperlichen Merkmalen festzumachen ist.

Auch den seit Anfang 2020 angelobten Innenminister Karl Nehammer der ÖVP scheint die Lebensrealität der Betroffenen nicht zu interessieren. Vielmehr zeigt er aktuell in seiner Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage eine ebensolche Unkenntnis wie schon sein Vorgänger. Im Fall von Alex Jürgen* hat das Gericht klargestellt: der Erlass ist nicht bindend und eine Verordnung fehlt.

Herr Innenminister, es wird höchste Zeit, dass dieser Erlass zurückgenommen wird!

Zur Presseaussendung von VIMÖ über die Anfragebeantwortung

Tinou Ponzer ist seit 2016 Vize-Obmensch von VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich) und beim Zweigverein VIMÖ Wien tätig. VIMÖ ist eine menschenrechtsbasierte Interessensvertretung und Teil des Netzwerks Plattform Intersex Österreich sowie des Dachverbands OII Europe (Organisation Intersex International Europe).

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